IMI-Analyse 2024/02

KI-Revolution Gaza?

Die „Startup Nation“ im Krieg

von: Christoph Marischka | Veröffentlicht am: 15. Januar 2024

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Nach den brutalen Massakern der Hamas und ihrer Verbündeten am 7. Oktober 2023 in Israel, welche den aktuellen Krieg in Gaza und darüber hinaus ausgelöst haben, entbrannte recht schnell eine Debatte, wie die Hamas Israels hochgerüstete Sicherheitsbehörden so dermaßen überraschen konnte. Die enge Zusammenarbeit zwischen Militär, Geheimdiensten und dem Technologiesektor war eine zentrale Komponente des israelischen Konzepts der „Startup Nation“, das weltweit als Vorbild für militärisch-technologische Innovationsfähigkeit galt und zahlreiche Unternehmen und Werkzeuge hervorbrachte, deren Fähigkeiten als führend oder gar einzigartig galten und gelten. Das gilt v.a. für die Signalerfassende Aufklärung (SigInt), also das Abhören von Kommunikation, das Eindringen in Cyber-physikalische Systeme („Hacken“) und die KI-basierte Auswertung verschiedener Datenquellen. Als populäre Beispiele könnte u.a. die Schadsoftware Stuxnet genannt werden, hinter der zumindest anteilig israelische Entwicklungen vermutet werden, sowie die Spionagesoftware Pegasus, die weltweit Anwendung findet – auch wenn es um die Überwachung von Menschenrechtsaktivist*innen und kritischen Journalist*innen geht.

Israelische Tech-Industrie in der Krise?

Die implizite Annahme war, dass sich in dem relativ überschaubaren Gaza-Streifen keine Maus bewegen könnte, ohne dass sie von Israel überwacht würde und schon gar nicht die Hamas einen solch komplexen Angriff vorbereiten könnte, ohne dass nicht zumindest irgendeine KI im Vorfeld Auffälligkeiten detektieren und melden würde. Eine in dieser Diskussion häufig vorgetragene Position bestand darin, dass nicht die Technologie selbst versagt hätte, die israelischen Behörden und die Gesellschaft insgesamt sich aber zu sehr auf diese verlassen und andere Formen der Überwachung und des Schutzes – u.a. durch Personal in Grenznähe – vernachlässigt hätten. In diese Richtung argumentiert auch eine Analyse von Vincent Carchidi für das Middle East Institut. Aus dieser Rekonstruktion der Vorbereitungen des Angriffs vom 7. Oktober 2023 ergibt sich auch eine Ahnung davon, wie viele Menschen mit erheblichem Fachwissen und analytischem Potential gegenüber den Fähigkeiten und Strukturen der israelischen Verteidigungssysteme beteiligt gewesen sein müssen.

Trotzdem war das Selbstbewusstsein der Startup Nation kurzfristig erheblich angekratzt. Bereits zuvor waren als zentral erachtete Indikatoren militärisch-technologischer Innovationsfähigkeit und für den Zustand bzw. die „Wettbewerbsfähigkeit“ entsprechender „Ökosysteme“ eingebrochen, darunter das Volumen von Risikokapital, das in entsprechende Startups fließt und die Zahl der Exits und Übernahmen durch Unternehmen von Weltrang. Hierbei handelte es sich jedoch überwiegend um globale Trends, die mit der allgemeinen Konjunkturlage und dem erhöhten Zinsniveau zusammenhängen, welches grundsätzlich als Hemmschuh für Risikokapitalinvestitionen und – damit im herrschenden Denksystem eng zusammenhängend – technologische Innovationen gilt. Als weiteres, für Israel und die jüngste Eskalation spezifisches Krisensymptom wurde jedoch in der entsprechenden Szene die Einberufung zum Militärdienst diskutiert, die aufgrund der besagten Verbindungen die israelischen Tech-Startups besonders betraf oder zumindest zu bedrohen schien: Viele Angestellte dieser Unternehmen wurden zum Militärdienst eingezogen, Branchenverbände und einzelne Firmen berichteten von durchschnittlich 15% und bis zu einem Drittel ihrer Belegschaft, zudem habe auch die Produktivität der Verbliebenen abgenommen durch psychologische Belastung, häufige Alarme wegen anfliegender Raketen oder Angehörigen, die eingezogen wurden.Ganz grundsätzlich, so wurde an anderer Stelle ausgebreitet, bilde der anhaltende Krieg keinen guten Hintergrund für größeren Übernahmen und Investitionen, von denen die Branche besonders abhängig ist. Dabei mag es sich zumindest in Teilen auch um professionelles Lamentieren gehandelt haben, um staatliche und internationale Unterstützung zu mobilisieren. Diese ist dann in verschiedenen Formen auch erfolgt, so hat etwa die Behörde zur Innovationsförderung des Finanzministeriums (Israeli Innovation Authority) ihr Fördervolumen für junge Startups kurzfristig verdreifacht und Risikokapitalgeber*innen weltweit haben verschiedene Fonds eingerichtet, um Unternehmen zu unterstützen, die (angeblich) durch den Militärdienst belastet werden. Das prominenteste Beispiel hierfür heißt „Iron Nation“ und hat das Ziel proklamiert: „Vielversprechende, gefährdete Startups [zu] unterstützen, während ihre heldenhaften Teams ihr Land verteidigen“.

Im Herz einer KI-Revolution?

Inzwischen ist jedoch die Stimmung wieder in den für die Branche üblichen Optimismus umgeschwungen. Eher bemüht oder beschwörend wirkt da noch ein Meinungsbeitrag der israelischen Wirtschafts-Botschafterin in Washington für CNBC Mitte Dezember 2023 unter dem Titel: „Nach jeder Krise kehrt Israels Wirtschaft stärker zurück“. Hierfür gäbe es „unglücklicherweise vielfältige Beispiele“. Und auch jetzt wieder sei „offensichtlich, dass sich Israel bereits wieder erholt, und es sind die kundigsten und erfahrensten Investoren, die diese tiefgreifende Gelegenheit nutzen“. Ihr zentrales Narrativ einer besonders „resilienten“ (Startup-)Nation wurde u.a. in einem Beitrag der Times of Israel vom 8. Januar 2024 ausführlich aufgegriffen und ausgebreitet. Zitiert wird hier u.a. die Leiterin der israelischen Niederlassung des japanischen Tech-Giganten NTT: „Es war ein Jahr, das uns daran erinnert hat, wie wichtig Einigkeit und die Kraft der gegenseitigen Unterstützung und der zivilen Kreativität sind […]. Wir haben gesehen, dass das gesamte Ökosystem hinter der Botschaft steht, dass israelische Tech-Industrie liefert, egal was passiert“. Es ist insgesamt auffällig, dass nahezu alle aktuellen Beiträge, die sich auf den Begriff der „Startup Nation“ berufen, nur Gemeinsamkeiten und Solidarität zu kennen scheinen, keine Konkurrenz, keine Widersprüche und keine Konflikte. Angestellte, Kapitalgeber*innen, CEOs, Regierung und Militär scheinen alle mit hohem persönlichen Engagement dieselben Ziele zu verfolgen und dieselbe Meinung zu vertreten. Zwar wird z.B. die Mobilisierung von Reservist*innen als Herausforderung dargestellt, eine Kritik an ihr ist in diesem Kontext jedoch nicht im Ansatz zu erkennen. Angesichts der tiefen Risse, welche sich aktuell nicht nur im Hinblick auf den Krieg und seine Ziele auch durch die israelische Gesellschaft ziehen, ist es unwahrscheinlich, dass dies auch nur annähernd die Realität abbildet.

Auch ansonsten scheinen sich die Protagonist*innen dieser Startup Nation in einer Art Parallel-Universum zu bewegen, die befremdliche Formulierungen und Ansichten zum Zusammenhang von Krieg, Technologie und Konjunktur hervorbringt. Ein Beispiel hierfür ist ein Beitrag des US-amerikanischen Tech-Unternehmers und Risikokapitalinvestoren Michael Fertik auf seinem (neu eingerichteten) Blog bei Times of Israel mit dem Titel: „Dieser Krieg wird Israels Stellung als Kraftzentrum der Künstlichen Intelligenz stärken“; Untertitel: „Der Konflikt mit der Hamas ist vieles: schrecklich, traurig und auch ein fruchtbarer Boden für massive und rapide technologische Innovationen“.

Dass Fertik den Krieg „furchtbar“ aber „notwendig“ findet, flechtet er mehrfach in seinen Beitrag ein, kann ihm aber ansonsten viel Gutes abgewinnen: „Heute, obwohl Israel mit der traurigen Tatsache konfrontiert ist, dass es einen weiteren existenziellen Krieg führen muss, werden die Samen für eine bessere Zukunft gesät. Die besten Softwareentwickler*innen, Informatiker*innen, Forschenden und Unternehmer*innen Israels, die jetzt buchstäblich in den Schützengräben agieren, lernen, was möglich, praktisch und träumbar ist“. Im Mittelpunkt steht für ihn dabei das Thema Künstliche Intelligenz, bei der Israel gerade im „Herzen“ dessen stünde, was er mit der „kambrischen Explosion“ vergleicht. Diese wird populärwissenschaftlich u.a. als „Urknall des Lebens“ übersetzt und bezeichnet eine erdgeschichtlich relativ kurze Zeitspanne, in der sehr viele neue Gattungen von Lebensformen entstanden sind. Diese fast schon metaphysische Metapher wird dann noch durch recht banale Analogien ergänzt: „Krieg und militärische Notwendigkeiten werden schon immer mit Erfindungen in Verbindung gebracht: Klebeband, Mikrowellen, GPS und vielleicht sogar das Internet“. Während an dieser Aussage inhaltlich nichts zu kritisieren ist, irritiert doch der euphorische Tonfall des Beitrages im Angesicht eines Krieges, den man erklärtermaßen „schrecklich“ findet.

Generative KI und psychologische Kriegführung

Skurril bis schockierend erscheinen auch verschiedene Beiträge von und über Shiran Mlamdovsky Somech und ihr Unternehmen „Generative AI for Good“ –  was sich sowohl mit „Generative KI für das Gute“ und „Generative KI für immer“ übersetzen lässt. Somech bezeichnet sich als Tech-Entrepreneurin und Netzwerkerin, die Startups, NGOs, Regierungsbehörden und multinationale Unternehmen zusammenbringt. Ihre Geschäftsidee entwickelte sie zunächst am Thema häusliche Gewalt und mobilisierte Unternehmen und Behörden, um mit generativer KI ein Video zu erstellen und zu verbreiten, in dem eine israelische Frau, die von ihrem Mann brutal erstochen wurde (also bereits tot war), über ihre Beziehung spricht. Das Video habe dazu beigetragen, dass sich andere Frauen an entsprechende Hilfsangebote gewandt hätten, und damit „Leben gerettet“.

Nun allerdings will Somech entsprechende Technologien in den Dienst des Krieges stellen. In einem Beitrag für die englischsprachige Website der hebräischen Wirtschaftszeitung „Calcalist“ schreibt sie unter dem (frei übersetzten) Titel „Generative KI wird einberufen“: „Das Bewusstsein wird zu einem weiteren Schlachtfeld, wenn Krieg geführt wird und der wichtigste Kampf entfaltet sich in der digitalen Welt, in der wir alle Soldaten und Kämpfer werden. Mit unseren Tastaturen werden wir Zeugen, wie Künstliche Intelligenz zu einem zentralen Werkzeug wird im Krieg um das Bewusstsein und die Narrative der Menschen. Dies ist ein neues Kapitel in der Evolution der digitalen psychologischen Kriegführung“. Anschließend beschreibt sie, dass es sich bei generativer KI um eine „innovative Technologie“ handle, mit der sich ohne technisches Vorwissen leicht und schnell neue Inhalte wie Text, Bilder und Videos erzeugen ließen. Einige „nutzen dies aus, um Angst, Furcht und Verwirrung zu stiften, indem sie Fake News und Deepfakes erzeugen“. „Auf der anderen Seite“ böten die neuen Werkzeuge auch die Möglichkeit, breiten und positiven „Einfluss“ auf die allgemeine Öffentlichkeit zu nehmen.

Schlagzeilen machten Somech und ihr Unternehmen mit einem Video, das einen achtjährigen Jungen („Nave“) zeigt, der am 7. Oktober 2023 von der Hamas entführt und als Geisel gehalten wurde. Noch vor seiner Freilassung während der Waffenruhe Ende November wurde das Video von Angehörigen auf einer Pressekonferenz vorgeführt und ging viral (hier ist auch das Video zu sehen). Am Ende des emotionalen und akustisch mit Herzschlägen unterlegten Videos, in der sich der simulierte Junge an seine Familie richtet, erscheint ein Text, der erklärt: „Um Nave zu hören, mussten wir KI benutzen“. Anschließend wird u.a. auf den Hashtag „#TheWestIsNext“ verwiesen, unter dem die Erzählung verbreitet wird, dass die Hamas als nächstes den globalen Westen angreifen werde, wenn Israel ihr nicht jetzt Einhalt gebiete. Spätestens hier könnte man durchaus argumentieren, dass es auch hier darum geht, „Angst, Furcht und Verwirrung zu stiften“ in einem „Krieg um das Bewusstsein und die Narrative der Menschen“. In ihrem Beitrag für Calcalist beschreibt und verlinkt Somech weitere Projekte, darunter mehrere Plattformen und Chatbots, die explizit darauf ausgerichtet sind, Kindern die aktuelle Situation „zu erklären“ und sie zu „beruhigen“.

KI-basierte Flächenbombardements

Apropos Paralleluniversum: In seinem oben genannten Blogeintrag begründet der Investor Fertik die bevorstehenden und stattfindenden Quantensprünge damit, dass „Präzision noch nie so wichtig war, wie jetzt und die Investitionen der IDF [Israel Defense Forces] und ihrer Verbündeten, um diese Präzision zu erreichen, in den Bereich der Künstlichen Intelligenz fallen“. Anschließend berichtet er geradezu euphorisch, wie abgefangene Audio-Signale „in Lichtgeschwindigkeit“ und „Millionen Stunden von Videoaufnahmen gleichzeitig“ ausgewertet würden, um automatisiert Vorschläge für Angriffsziele zu extrahieren. Er spielt damit offenbar auf Veröffentlichungen an, wonach ein großer Teil der in Gaza bombardierten Ziele durch eine KI-basierte Software vorgeschlagen würde. Hierüber hat die IMI bereits berichtet und kommentiert: „Eine im Einzelfall abwägende, gar juristische Prüfung der völkerrechtlich gebotenen Verhältnismäßigkeit lässt sich [angesichts der schieren Masse der abgeworfenen Bomben über dicht besiedeltem Gebiet] plausibel nicht argumentieren. Der Einsatz von KI kann hier – bei aller Empörung, die er im ersten Moment hervorrufen mag – auch als Teil einer (völkerrechtlichen) Legitimation verstanden werden“.

Tatsächlich deutet eigentlich nichts darauf hin, dass die von Fertik proklamierte „Präzision“ existiert oder überhaupt angestrebt wird. Der Experte für die Untersuchung von mutmaßlichen Kriegsverbrechen, Marc Garlasco, hat in einem abwägenden Beitrag die Argumentation des Stabchefs der israelischen Luftwaffe zur Begründung der Luftschläge analysiert. Er beschreibt in diesem Zusammenhang, dass die Mehrheit der (bis dahin, Ende Dezember 2023) 29.000 abgeworfenen Bomben ungelenkt gewesen seien und hiervon wiederum ein Großteil „zu den größten gehören, die regulär verwendet werden“, die noch im Umkreis von 300 Metern tödliche Wirkung haben könnten. Gerade vor dem Hintergrund, dass Israel über „eine der fähigsten militärischen Aufklärungen der Welt verfügt“ und angeblich KI bei der Zielfindung einsetzt, sieht er Anzeichen dafür, dass die israelische Luftwaffe „weniger fokussiert auf eine auf Aufklärung basierte Luftkampagne ist, sondern eher darauf, im palästinensischen Sozialgefüge ‚Schock zu erzeugen‘ und den Druck auf die Hamas zu erhöhen – falls zutreffend eine klar rechtswidrige Gewaltanwendung, weil die Gesellschaft kein legitimes Ziel ist“.

Die südafrikanische Anklageschrift gegen Israel wegen mutmaßlichem Völkermord fasst die weitgehend unbestrittenen Fakten zum Stand 27. Dezember 2023 zusammen: Demnach wurden seit dem 7. Oktober 2023 in Gaza mindestens 21.110 Menschen getötet und 55.243 verletzt. Unter den Getöteten waren 7.729 Kinder, weitere 4.700 Frauen und Kinder werden vermisst und ihre Leichen sind vermutlich unter dem Schutt begraben. Zu jenem Zeitpunkt galten 1,9 Mio. Palästinenser*innen als intern Vertriebene, mehr als 355.000 Wohneinheiten und damit 60% des Gesamtbestandes galten als zerstört oder beschädigt. Die Zerstörungen seien so großflächig, dass sie aus dem Weltraum sichtbar wären. Präzision sieht anders aus. Nach Angaben eines israelischen Armeesprechers seien bis 6. Januar 2024 8.000 bis 9.000 Hamas-Kämpfer getötet oder gefangengenommen worden. Während sich die Angaben zu gefangenen Hamas-Angehörigen im dreistelligen Bereich bewegen, liegt diese Zahl sehr nah an den Angaben zu getöteten Männern in Gaza insgesamt und ist entsprechend unglaubwürdig. Das Komitee zum Schutz von Journalisten berichtet zum Stand vom 12. Januar 2024 von 79 bestätigt getöteten Journalist*innen in Israel und Gaza, 16 weitere wurden verletzt (im Jahr 2022 betrug die entsprechende Zahl weltweit 67). Auch das ist nicht gerade ein Indiz für herausragende Präzision.

Diese Zahlen und diese Kriegführung sind keine Werbung für Künstliche Intelligenz und ihre Anwendung bei der Zielfindung. Falls dieser Krieg tatsächlich das „Herz“ einer KI-Revolution darstellt, sind das düstere Aussichten. Dessen ungeachtet scheint sich das Selbstbewusstsein der Startup Nation vor dem Hintergrund der Flächenbombardements erholt und zu neuen Höhen aufgeschwungen haben. Zum Glück steht die Startup Nation nicht für die israelische Gesellschaft insgesamt, in der die Kritik am militärischen Vorgehen und dem Versagen der Sicherheitsbehörden im Vorfeld – auch an dem zu großen Vertrauen auf technische Lösungen – anhält.